Warum beschäftigen wir uns heute so intensiv mit dem Zeitbegriff? Warum dieses Nachdenken über die schrittweise Entwicklung des Zeitbegriffs, von der verräumlichten Zeit bis zum zeitlichen Rhythmus?
Die technisierte Zeit mit ihrer verordneten Pausenlosigkeit hat uns in einen rasenden Stillstand geführt,der unsere Gesellschaft aus dem biologischen Gleichgewicht geworfen hat.
Auf allen Ebenen, von der biochemischen Ebene der Zellen über Atmung, Herzschlag, Tag/Nachtrhythmus bis zu den kosmischen Dimensionen, überall herrschen Eigenzeiten, die der Mensch nicht ungestraft außer Acht lassen kann.
Einleitung
Was bedeutet „ein rechtes Zeitmaß“? Ein Blick in die Ideengeschichte des Zeitbegriffs kann hier helfen, ein Blick in die Ideengeschichte unserer europäischen Kultur. Als Ordnungskonzept dazu dient hier die Vaisheshika-Philosophie, das zweite System der indischen Philosophie, das die Erkenntnis der Welt in fünf kategoriale Grundbegriffe einteilt, die aufeinander aufbauen:
- Raum (akasha),
- Zeit (skala),
- Richtung (dhik),
- Rythmus (atman) und
- Geist, selbstbezügliche Information (manas).
In unserer europäischen Kulturgeschichte sind diese Zeiträume leicht auszumachen, in denen jeweils die entsprechenden kategorialen Grundbegriffe unseres Weltverständnisses erarbeitet wurden.
Erarbeitung der Begriffe Raum und Zeit
Mit der Renaissance (in der Zeit von 1450 bis 1600 n. Chr.) wurde der Raum in seiner ganzen Bandbreite erschlossen: Leonardo da Vinci steht für die Zentralperspektive, Kolumbus entdeckte Amerika und damit verbunden die Kugelgestalt der Erde, der englische Arzt W. Harvey entdeckte den Blutkreislauf, Zacharias Janssen entdeckte das Mikroskop, Galilei das Fernglas und Kepler das astronomische Fernrohr.
In dem nun folgenden Prozess der Entfaltung der wissenschaftlichen Physik aus Metaphysik und Alchemie wurde der Raum in seiner ganzen Bandbreite messend durchforscht. Das Verständnis der Zeit blieb aber in dieser Zeitspanne bei dem Konzept einer reversiblen Zeit stehen. Zwar wurde die Bedeutung von Prozessen in der Zeit erkannt, diese konnten aber prinzipiell in der Zeit vorwärts wie rückwärts laufen.
Die Zeit wurde verräumlicht, bis sie in der Relativitätstheorie Anfang dieses Jahrhunderts mit dem Raum zur vierdimensionalen Raumzeit-Geometrie verschmolz. Die Zeit wurde globalisiert - die lokalen Zeitmaße verschwanden zugunsten globalisierter Zeitzonen. Die Zeit wurde homogenisiert - in einem schrittweisen Prozess der Verfeinerung wurde die Messung der Zeit immer weiter vorangetrieben, vom Stundensignal der Römer über Sand- und Wasseruhren zur mechanischen Uhr (Sekunde), über die Tonuhr (0,01 sec), die Quarzuhr, die Ammoniakuhr bis zur Atomuhr mit einer Genauigkeit von 10 -11 sec, mit der heute von Braunschweig aus unsere Uhren gleichgeschaltet werden.
Da die astronomische Zeit aber nur eine Genauigkeit von 0,001 sec. hat, müssen jährlich unsere Uhren korrigiert werden, damit die homogenisierte, verräumlichte technische Zeit nicht der Naturzeit davonläuft.
Nach 1960 wird mit der Verfeinerung der analytisch-spektroskopischen Methoden und der Einführung des Begriffs der Chiralität (Händigkeit) die fundamentale Bedeutung der Richtung, der Orientierung im Raum für die Wissenschaft erkannt.
Ab 1980 rückt dann mit der Entwicklung der Selbstorganisationstheorien der Rhythmus als elementare Kategorie ins Rampenlicht der Wissenschaft. Die grundsätzliche Bedeutung der Irreversibilität zeitlicher Prozesse wird entdeckt. Mit der damit verbundenen Verzeitlichung des Raums wird die Bedeutung rhythmischer Prozesse für das Verständnis der Gestaltbildung in biologischen Systemen erkannt.
Der Kreisel als Modell
An einem alltäglichen Spielzeug aus dem Kinderzimmer lassen sich die oben genannten Kategorien verdeutlichen, am Kreisel. Ein ruhendes Objekt, ein Stück Holz oder Plastik wird zu einem Kreisel, wenn er in Bewegung gesetzt wird, wenn er beginnt, sich mit hoher Geschwindigkeit um sich selbst zu drehen.
Der Kreisel wird zu einem Referenzpunkt im Raum, technisch genutzt in der Flugzeugtechnik als Kreiselkompaß. D.h. die Referenz des Kreisels ermöglicht eine Verabsolutierung des Raumes.
Der Kreisel hat eine Eigenrotation, eine Eigenzeit der Rotation. Somit ist der Kreisel ein Zeitmesser wie die Unruhe einer Uhr.
Beginnt ein Kreisel zu kreiseln, stellt er sich gegen die Schwerkraft auf, gibt also eine Richtung im Raum vor.
Der rhythmische Charakter seiner Bewegung wird in der Prezessionsbewegung sichtbar, wenn der Kreisel aus seiner Gleichgewichtslage ausgelenkt wird.
Der Kreisel ist das Modell eines selbstorganisierten Prozesses, eines Schöpfungsprozesses. So ist er ein „mechanisches“ Modell für die Bausteine der Physik, die Elementarteilchen. Die Elementarteilchen sind gedachte Kreisel. Kreiseln heißt im englischen "to spin". Jedes Elementarteilchen ist durch einen „Spin" gekennzeichnet.
So wie die Elementarteilchen lassen sich die Atomkerne, die Atome, die Moleküle als Kreisel beschreiben. Jede Ordnungsebene hat ein charakteristisches Zeitmaß, eine Eigenzeit, eine kürzeste Zeit der Selbstreproduktion des Systems in seiner augenblicklichen Ordnung.
In diesem Zeitfenster der Eigenzeiten kann das Objekt als dynamisches Phänomen wahrgenommen werden, außerhalb macht es den Eindruck eines statischen zeitlosen Objekts.
Dies kann wieder am Kreisel studiert werden.Wenn der Kreisel sich sehr schnell bewegt, nehmen wir ihn als scheinbar stillstehendes Objekt wahr, nur wenn er "langsam" kreiselt, zeigt er seine wahre dynamische Natur.
Hier wird das Geheimnis sichtbar, wie die Zeit, indem sie in die Objekte eingeht, diese erschafft. Gerade der Prozeß des „in-die-Gegenwart-Kommens“ von Objekten, hängt immer über den Spin mit einer „Verzeitlichung“ zusammen.
Ökosoziale Zeitpolitik
Warum beschäftigen wir uns heute so intensiv mit dem Zeitbegriff? Warum dieses Nachdenken über die schrittweise Entwicklung des Zeitbegriffs, von der verräumlichten Zeit bis zum zeitlichen Rhythmus? Und was ist das Ergebnis dieses Prozesses?
Da ist zuerst die Ablösung von den Naturzeiten, die Homogenisierung und Standardisierung des Zeitbegriffs. Überall tickt die gleiche Zeit, die Folge ist eine Zeitdisziplin, der wir alle unterworfen sind, eine Zeitdisziplin, die die Voraussetzung für die Industrialisierung war. Sie war der Preis, den wir gezahlt haben. Tapfer trägt der moderne Mensch die Zeitdisziplin am Handgelenk. Auf die Sekunde genau wird er trainiert, von den öffentlichen Verkehrsmitteln, der Stechuhr am Arbeitsplatz, den vielen Quarzuhren in der Wohnung, in Küche, Wohn- und Schlafzimmer.
Die verordnete Zeitdisziplin hat zu einer Pausenlosigkeit geführt, zu einer Entrhythmisierung des Lebens. Die Leerzeiten, die Zeiten lebendiger Stille, für unsere Großeltern noch eine Selbstverständlichkeit, ist wegrationalisiert. Eine sogenannte Nonstop-Gesellschaft hat sich ausgebreitet, eine Standby-Gesellschaft, mit dem Handy sind wir Tag und Nacht überall erreichbar. Ständig stehen wir unter Spannung, in einem Zustand „rasenden Stillstands“.
Um die schädlichen Auswirkungen eines nur technischen Zeitbegriffs in der Gesellschaft einzudämmen, ergibt sich die Forderung nach einer Zeitpolitik, die den Menschen wieder aus der Beliebigkeit einer technisierten Zeit herausführt zu seiner Eigenzeit, seinen eigenen biologischen Zeitmaßen. Wir brauchen eine ökosoziale Zeitpolitik. Auf allen Ebenen, von der biochemischen Ebene der Zellen über Atmung, Herzschlag, Tag/Nachtrhythmus bis zu den Jahreszeiten, überall herrschen biologische Eigenzeiten, die der Mensch nicht ungestraft außer Acht lassen kann. Es sind diese Zeitmaße des Menschen, seiner Mit- und Umwelt, die ihm in einer neuen ökosozialen Zeitpolitik wieder zu einem Leben in Einklang mit der Natur verhelfen können.
© Prof. Dr. H. Schenkluhn, Stiftung Bildungsforschung (Lüneburg) 1997
in Anlehnung an einen Vortrag, gehalten am 10.11.1997 in der Galerie an der Finkenstrasse, München.
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