Die Musik entsteht aus dem Maße und wurzelt in dem großen Einen. Das große Eine erzeugt die zwei Pole, die zwei Pole erzeugen die Kraft des Dunkels und des Lichts. Die eine sinkt in die Tiefe, die andere steigt in die Höhe ...
Vollkommene Musik entsteht aus dem Gleichgewicht. Darum vermag man nur mit einem Menschen, der den Weltsinn erkannt hat, über Musik zu reden. Die verfallenen Staaten und die dem Untergang reifen Menschen entbehren freilich auch nicht der Musik, aber ihre Musik ist nicht heiter ...
Enzyklopädie des chinesischen Kaufmanns LiPuWe (3. Jh. v. Chr.)
Jedem unserer Sinne unterliegt eine eigene Logik. Die Wahrnehmung der Sinne, ihre Wertung dargebotener Reize erfolgt über spezifische Wahrnehmungsmuster.
Den Tönen des Monochords, eines altertümlichen Saiteninstruments, und ihrer Wertung durch das Gehör folgend, entwickelte die Schule des Pythagoras vor 2500 Jahren ein harmonikales Weltbild, das die Wahrnehmungsmuster des Gehörs und dazugehörige Wertvorstellungen in überschaubarer Weise verbindet.
Mit ihrem Doppelbegriff von „Zahl und Harmonie“ reichte der Einfluß der Pythagoreer bis in die Renaissance und führte z. B. Kepler in seinem Bemühen, die mathematische Ordnung der (musikalischen) Harmonien auch im Universum nachzuweisen, zur Entdeckung der nach ihm benannten Gesetze. Mit der Aufklärung geriet dann das alte Wissen in Vergessenheit, um in diesem Jahrhundert wieder neu entdeckt zu werden.
Freiherrn v. Thymus (1868) und H. Kayser (1950) haben dieses alte Wissen aus den Urtexten wieder entschlüsselt und in Form einer interdisziplinären Wissenschaft aufbereitet.
Mit Hilfe des Monocords, werden die Sinn stiftenden Wertungen des Hörsinns hörbar und sichtbar gemacht. Über die Beziehung der Tonhöhe/Saitenlänge erfolgt die Übersetzung in die objektive Sprache von Zahlenrelationen (Tonzahlen, harmonikalen Wertformen), die ihrerseits anschließend Gegenstand gruppentheoretisch-mathematischer Untersuchungen (der Verstandeslogik) sind.
Die Grundlage der Harmonik ergibt sich aus folgender Tonreihe, die sich aus der oben zitierten Enzyklopädie des LüPuWe ableiten läßt (Abb. 1):
Der Text in der Enzyklopädie des chinesischen Kaufmanns LiPuWe (s.o.) wird sofort einleuchtend, wenn man die Ober- und Untertonreihen eines Grundtons, hier [C], untersucht und sich den "seelischen" Tonwert gespielt von einer Orgel anhört.
Die Musik entsteht aus dem Maße und wurzelt in dem großen Einen. [1/1 C] Das große Eine erzeugt die zwei Pole [Obertonreihe und Untertonreihe] , die zwei Pole erzeugen die Kraft des Dunkels [Untertonreihe > moll] und des Lichts [Obertonreihe > dur]. Die eine sinkt in die Tiefe [Untertonreihe], die andere steigt in die Höhe [Obertonreihe] ...
Hier die Obertonreihe, bestehend aus 7 Tönen:
Und hier die Untertonreihe, ebenfalls bestehend aus 7 Tönen:
Jedes Element der Harmonik stellt eine Beziehung zwischen einem Element der Sinnenlogik (Tonwert) und einem Element der Verstandeslogik (Tonzahl) her. Die syntaktische Dimension der Harmonik liegt in der Relation der Tonzahlen und -werte, die semantische in ihrer Beziehung zur objektiven Welt der physikalischen Töne, die pragmatische in der Relation zu der Wertedimension der Sinne.
Ausgedrückt in Worten von Hans Kayser :
„Da nun dieses System auf das Naturgesetz der Obertonreihe zurückgeht und seine gruppentheoretische Form auch sonst in der Natur verankert zu sein scheint — da auf der anderen Seite alle die in ihm enthaltenen Tonwerte psychischen Formen in unserer Seele entsprechen, wie ja die „Monocordkontrolle“ beweist, so haben wir in diesem harmonikalen Grunddiagramm eine jener seltenen Koinzidenzen von Naturhaftem und Seelischem, von Materie und Geist, welche ganz andere Evidenzen zu vermitteln verspricht als eine nur logische (mathematische) Formulierung oder eine nur psychologische Analyse innerer Gestalten und Erlebnisse“.
Der entscheidende Schritt in der Rekonstruktion der Harmonik war die Erweiterung der Tonreihe in eine Tonebene. Ähnlich dem Periodensystem der chemischen Elemente wurde von A. von Thymus und H. Kaiser auf der Basis des Kommentars von Jamblicus über die Arithmetik des Nikodemus ein harmonikales Tonsystem wiederentdeckt, ein „Periodensystem der Töne“, das sog. Lambdoma, das ein graphisches Abbild der Wertung der Töne durch unser Gehör darstellt (Abb. 2):
„Nehmen wir vorab die Einheit und beschreiben wie von einem Winkel derselben aus eine Figur in Gestalt des großen griechischen Lambda und füllen die eine der Seiten der Reihe nach mit den an die Einheit anschließenden Zahlen, soweit fortschreitend als wir eben wollen, z.B. 2, 3, 4, 5, 6 usw., die andere Seite aber, beginnend mit dem Größten der Teile, welches das seiner Größe nach dem Ganzen zunächstliegende Halbe ist, der Reihe nach mit den hieran sich anschließenden Teilen 1/3, 1/4, 1/5, 1/6, 1/7 usw., so wird sich unseren Blicken das erwähnte Wechselspiel des einander Ausgleichenden zeigen und wir werden jenes Gleichgewicht des Mitverknüpften und das wohlgegliederte Verhältnis sehen, welches wir eben bezeichneten. Und dieweil das Ganze in zwei geteilt Hälfte genannt wird, so zeigt sich als das Zwiegespann gleichsam das Halbe und die Zwei. Ebenso verhält es sich, wenn aus der Teilung in drei das Drittel, aus der Teilung in vier das Viertel entsteht. Und so geht es weiter bis zum Hundertstel und Tausendstel und Zehntausendstel und es zeigt sich so in zwingender Weise hier recht die Notwendigkeit der ins Unendliche gehenden Zerschneidung, um der andererseits ins Unendliche sich ausdehnenden gleichnamigen Mehrung willen.“
Die sich aus dem Lambdoma ergebenden vielfältigen Beziehungsgesetze zwischen den Tönen führen zu einem „Hörbild“, das sich aus der Umsetzung bzw. Umwandlung der akustischen Tonformen in optische, graphische Bilder ergeben.
So schneiden sich z. B. die Linien, welche Töne eines Entwicklungsgesetzes verbinden (z. B. 2n/n = c; n/n = c; 2n/3n = f), in einem Punkt außerhalb des Lambdoma.
Es ist der Punkt 0/0, eine transzendente Tonzahl (dem eine transzendentale Realität von Tönen zugeordnet ist). Diese transzendete Tonzahl ist Ausgangspunkt der pythagoreischen Kosmologie, einer in Tonzahlbeziehungen und sog. Teiltondiagrammen ausgedrückten Symbolik und einer ihr zugeordneten Sinn stiftenden Entsprechungslehre.
Als Beispiel sind wesentliche Aussagen der pythagoreischen Kosmologie in ein Teilton-diagramm Index 7 eingezeichnet (Abb. 3):
Nach diesem Teiltondiagramm ergibt sich z. B. eine interessante Interpretation des 42. Spruchs des Tao-Te-King:
Das Tao erzeugt die Einheit [0/0];
die Einheit erzeugt die Zweiheit [1/1C];
die Zweiheit erzeugt die Dreiheit[1/2C <-- 2/2C --> 2/1C];
die Dreiheit erzeugt alle Geschöpfe [alle Töne].
Die eigenartige Gesetzmäßigkeit, daß sich alle Töne gleichen Entwicklungsgesetzes in einem und nur einem Punkt in der transzendenten Tonebene [0/0] schneiden, ergibt Assoziationen zu einem Gedicht von Friedrich Rückert:
Wie von der Sonne gehen viele Strahlen erdenwärts,
so geht von Gott ein Strahl in jedes Herz,
an diesem Strahle hängt das Ding mit Gott zusammen,
und jedes fühle sich dadurch von Gott entstanden,
von Ding zu Dinge geht seitwärts kein solcher Strahl,
nur vielverworrene Streiflichter allzumal.
An diesem Lichtern kannst Du nie das Ding erkennen:
die dunkle Scheidewand wird stets von ihm Dich trennen,
an Deinem Strahl mußt Du vielmehr zu Gott aufsteigen,
und in das Ding hinab in seinem Strahl Dich neigen,
dann siehest Du das Ding wie's ist, nicht wie es scheint,
wenn Du es siehest mit Dir selbst in Gott vereint.
Friedrich Rückert: Weisheit der Brahmanen
10. Stufe: Vom Totenhügel, Spruch 59
Das harmonikale Weltbild der Pythagoreer verdeutlicht, daß hinter unseren Sinnen (am Gehör gezeigt) und Empfindungen eine eigene Logik steht, die uns einen Verständniszugang zu unserer emotionalen Intelligenz eröffnet. So wurden die Zahlenverhältnisse der Töne, übersetzt als Seitenverhältnisse, mit seelischen Empfindungen korreliert und ergaben eine Systematik, die eine Brücke in eine harmonikale Baukunst darstellt (Abb. 4).
Viele bekannte Architekten haben entscheidende Anregungen von diesem Aspekt der pythagoreischen Harmonik erhalten
Literatur:
Hans Kayser: Lehrbuch der Harmonik, Occident Verlag Zürich (1950
Autor: Prof. Dr. Hartmut Schenkluhn, Allmannshofen
ehem. Senior Research Prof., MIU, IOWA (USA)
Quelle: Vortrag, gehalten vor der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung,
Dillingen a. d. Donau, Lehrgang Nr. 54/251 vom 14.07.1998
Weiterführende Aufsätze:
- Das Weltbild der Harmonik
- Harmonik und vertikale Bildung
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