Die indische Lehre von den höheren Stufen der Sprache und die Möglichkeiten ihrer Erfahrung

 

 

Unter den verschiedenen Traditionen der Sprachwissenschaft, die die Welt hervorgebracht hat, kommt der indischen Tradition ein besonderer Rang zu: Sie ist die älteste Tradition der Sprachwissenschaft überhaupt; sie tritt uns von Anfang an in einer vollendeten Gestalt entgegen; sie war weder in ihrem Beginn noch zu einem späteren Zeitpunkt ihrer Geschichte abhängig von irgendeiner anderen Form der Sprachwissenschaft, insbesondere nicht von der westlichen Sprachwissenschaft, sondern hat umgekehrt auf diese selbst einen maßgeblichen Einfluss ausgeübt.  Dies ist ungewöhnlich für eine nichtwestliche Wissenschaft, weil der Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Neuzeit im Allgemeinen in der umgekehrten Richtung, von Westen nach Osten, verlaufen ist

 

Die westliche Sprachwissenschaft hat zudem die indische Sprachwissenschaft, deren Einfluss sie erfahren hat, in hohem Maße wertgeschätzt, was bis zur Anerkennung der Tatsache reicht, dass die indische Sprachwissenschaft der westlichen ebenbürtig und in mancher Hinsicht sogar überlegen sei. Auch diese Anerkennung ist ungewöhnlich, denn sie erweckt den Anschein, als ob damit zumindest für eine Wissenschaft der Hegemonieanspruch der westlichen Wissenschaft widerlegt worden wäre. Dies hat in der Tat ein Vertreter der Wissenschaftsgeschichte der Linguistik behauptet mit der These, dass ”in der Linguistik und nur in der Linguistik die intellektuelle Vorherrschaft des Westens auf unzweideutige Weise gebrochen worden ist”.

 

Die hohe Wertschätzung, die der indischen Sprachwissenschaft seitens der westlichen Linguistik zuteil geworden ist, hat jedoch auch eine Kehrseite, denn sie ist typischerweise eine Wertschätzung in Begriffen des eigenen Selbstverständnisses: Die indische Sprachwissenschaft wird wertgeschätzt in dem Maße, in dem sie den Vorstellungen heutiger Linguisten von dem, was Sprachwissenschaft sei, entspricht. Dabei werden gerade Elemente der indischen Sprachwissenschaft außer Acht gelassen, die im eigenen System keine Entsprechung haben. Auch ist die Bekanntheit, die die indische Sprachwissenschaft in der Linguistik heute genießt, eingeschränkt dadurch, dass sie für die meisten Linguisten nur eine Bekanntheit vom ”Hörensagen” ist. Man kann deshalb sagen, dass auch nach einer nunmehr fast zweihundertjährigen Rezeptionsgeschichte im Westen die indische Sprachwissenschaft immer noch unzureichend bekannt und erkannt ist.

 

Zu den Elementen der indischen Sprachwissenschaft, die weder hinreichend bekannt noch in ihrer Bedeutung erkannt worden sind, gehört die Lehre von den vier Ebenen der Sprache. In dieser Lehre, die bis auf den Rigveda zurückverfolgt werden kann, liegt eine allgemeine Phänomenologie der Sprache vor, die den Gesamtumfang des Phänomens der Sprache auf eine Weise bestimmt, die in der westlichen Linguistik keine Entsprechung hat. Die Lehre von der Viergliederung der Sprache ist in ihrem Kern zunächst eine Lehre von der dreifachen Sprache. In dieser Lehre werden drei Schichten der sprachlichen Erfahrung unterschieden, die mit den Namen Vaikhari, Madhyama und Pashyanti bezeichnet werden. Die beiden ersten Schichten, Vaikhari und Madhyama, entsprechen den Erfahrungsebenen, die nach dem Sprachgebrauch der westlichen Linguistik als die äußere und innere Form der Sprache bezeichnet werden können. Die dritte Schicht, Pashyanti, hat in der westlichen Linguistik keine Entsprechung; sie kann deshalb nicht mit einem bereits eingeführten Namen bezeichnet werden.

 

Während auf der Ebene der äußeren und inneren Form der Sprache die Redeeinheiten in Teile gegliedert sind, die beim Sprechen und Hören in einer zeitlichen Ordnung aufeinanderfolgen, weist die Sprache auf der dritten Ebene keine Gliederung in Teile auf; demzufolge ist auch die zeitliche Ordnung der Redeeinheiten hier vollständig aufgehoben. Die zeitliche Ordnung der Redeeinheiten ist auf dieser Ebene jedoch nicht nur aufgehoben in dem Sinn von “eliminiert”, sondern auch aufgehoben in dem Sinn von “bewahrt”, insofern die dieser Ebene zugeordneten Phänomene in potentieller Form alle Informationen enthalten, die nötig sind, um die zeitlich gegliederten Formen der Sprache zu erzeugen. Die Phänomene der dritten Ebene sind subjektiv erfahrbar nur in Form einer Intuition. Es ist auf der einen Seite die Intuition des Sprechers, der weiß, was er sagen will, bevor er es sagt, und auf der anderen Seite die Intuition des Hörers, die das ganzheitliche Verständnis dessen umfasst, was gesagt worden ist. Die Phänomene der dritten Ebene können deshalb als Phänomene der sprachlichen Intuition bezeichnet werden.

 

In den Phänomenen der sprachlichen Intuition sind die sprachlichen Ausdrücke zu einem Punktwert kontrahiert. Da diese punktförmigen Gebilde jedoch nicht ein Nichts, sondern die Quelle der sprachlichen Kreativität sind, haftet ihnen noch eine Bestimmtheit an. Von diesem Zustand der Erfahrung, in dem die sprachlichen Ausdrücke zu einem Punktwert kontrahiert, gleichwohl aber noch in bestimmter Form vorhanden sind, wird nun in der indischen Sprachwissenschaft noch ein weiterer Zustand unterschieden, in dem die den Phänomenen der sprachlichen Intuition noch anhaftenden Bestimmungen vollständig verschwunden sind. Dies ist die vierte und grundlegende Ebene der Sprache, die jenseits des Bereichs der gewöhnlichen sprachlichen Aktivität liegt und die somit transzendenten Charakter hat. Diese Ebene wird Para, die ”transzendente” Form der Sprache, genannt. Es ist der Zustand der vollständigen Formlosigkeit, in dem alle partikulären Bedeutungen zur Ruhe gekommen sind und die sie bezeichnenden Ausdrücke sich aufgelöst haben. Diese vierte Ebene ist nicht eigentlich eine Ebene, die den drei anderen Ebenen hinzugefügt wird, sondern eine Ebene, die die Ganzheit der Sprache repräsentiert. Es ist die Ganzheit, die die untergeordneten Ebenen der Sprache umgibt und aus der diese hervorgehen. Dieses Verhältnis zwischen den drei Teilen der gewöhnlichen sprachlichen Aktivität und dem vierten transzendenten Teil der Sprache veranschaulicht Abbildung 1:

 

Abb. 1: Die Dreigliederung der Sprache

Abb. 1: Die Dreigliederung der Sprache
Abb. 1: Die Dreigliederung der Sprache

 

Die in der indischen Kultur überlieferte Lehre von den vier Ebenen der Sprache wurde ursprünglich durch ein praktisches Verfahren ergänzt, mittels dessen die unmittelbare Erfahrung der höheren Ebenen der Sprache erlangt werden konnte. Dieses Verfahren, von dem wir nur bruchstückhafte Kenntnis haben, wird als der “Yoga der Sprache” bezeichnet. Die grundlegende Technik des Yoga der Sprache ist eine Technik, die mit dem Ausdruck “Zusammenziehung der zeitlichen Reihenfolge” umschrieben wird.

 

Durch Anwendung dieser Technik wird der Anwender in systematischer Weise von der Erfahrung der äußeren und inneren Form der Sprache zur Erfahrung der dritten Ebene der Sprache geführt, auf der die Phänomene der sprachlichen Intuition erscheinen; durch weitere Vervollkommnung in der Praxis des Yoga der Sprache kommt er von der Erfahrung der sprachlichen Intuition schließlich zur Erfahrung der höchsten, transzendenten Natur der Sprache, in der auch noch die Spuren sprachlicher Formungen verschwunden sind.

 

Wenn die in der indischen Sprachphilosophie beschriebenen Erfahrungen höherer Stufen der Sprache universale Erfahrungen sein sollen, dann sollte man erwarten, dass auch ohne den Einsatz eines formalen Trainingsprogramms solche Erfahrungen gemacht worden sind und immer noch gemacht werden können - nicht nur in Indien, sondern überall auf der Welt. In dem Vortrag sollen einige dieser Erfahrungen vorgestellt werden. Diese Erfahrungen sind verschiedenen Bereichen menschlicher Aktivität zugeordnet, in denen die Sprache eine konstitutive Rolle spielt, - der Philosophie, der Psychologie, der Dichtung und der Religion.

 

Dokumente, in denen Erfahrungen höherer Stufen der Sprache beschrieben werden, können als die “empirische” Basis einer transzendentalen Phänomenologie der Sprache angesehen werden. In den Bereich dieser Forschungsrichtung fällt auch die Untersuchung der besonderen Konstitutions- und Erscheinungsweisen von (religiösen) Basistexten verschiedener Kulturen und die Untersuchung des Phänomens der “vollkommenen” oder “heiligen” Sprachen, in denen diese Basistexte jeweils erscheinen. Derartige Untersuchungen sind gerade heute von besonderem Interesse, da sie aus einer erweiterten sprachwissenschaftlichen Perspektive einen Beitrag zur Erklärung der Faszination religiöser Texte liefern können, die eine der hauptsächlichen Quellen des in verschiedenen Kulturen auftretenden Phänomens des Fundamentalismus ist.

 

 

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